Vor etwa einem Monat, bevor ganz Europa von Nationalstaaten abgeriegelt wurde, ist die anarchistische Bewegung in verschiedenen Teilen der Welt durch die Nachrichten aus Russland um den „Netzwerk“ Fall erschüttert worden. Das liberale Nachrichtenportal „Meduza“ veröffentlichte Information, wonach einige der Angeklagten aus Penza auf ihrer Flucht in den Mord an zwei Menschen verwickelt waren. Diese Information brachte erneut das Thema auf die Tagesordnung, wie wir unsere Solidarität organisieren und wo die Grenzen unserer Solidarität liegen. Obwohl wir uns nicht in der Region befinden, haben wir eine Verbindung zu unseren Gefährt*innen in Russland. Wir haben viele Solidaritätsveranstaltungen für die Verfolgten im „Netzwerk“ Fall in Dresden organisiert. Zum Beispiel haben wir Ende Dezember bei einem Event Menschen ermutigt, an russische Anarchisten und Antifaschisten im Gefängnis zu schreiben.
Dieser Text soll kein Angriff auf die Solidaritätskampagne oder die anarchistische Bewegung in Russland sein. Wir schreiben ihn, um uns an der Diskussion zu beteiligen – nur so können wir aus Fehlern lernen und vermeiden, dieser zu wiederholen.
Die Entstehung vom „Netzwerk“
Wahrscheinlich kennen die meisten Menschen, die diesen Text lesen, die Geschichte des Falles bereits. Trotzdem werden wir eine Kurzversion beschreiben, damit alle auf dem gleichen Stand sind.
Im Januar 2018 wurde die anarchistische und antifaschistische Bewegung in Russland und dem Rest der Welt durch die Verhaftung und Folter mehrerer Anarchisten und Antifaschisten in Petersburg geschockt. Menschen waren verhaftet, in den Wald gebracht, im Knast gefoltert worden, während ihre Angehörigen nicht wussten, was mit ihnen geschah. Diejenigen, die sich im Knast befanden, gaben ihre Mitgliedschaft am sogenannten „Netzwerk“ zu, zogen später ihre Zeugenaussagen aber zurück. Bis auf eine Person, die die Folterungen durch den FSB leugnete. Eine Menschenrechtskommission besuchte die Verhafteten im Gefängnis und registrierte eine Vielzahl von Folterspuren.
Leider wurde erst nach den Aktionen des FSB in Petersburg bekannt, dass die gleiche Situation einige Monate zuvor in Penza stattgefunden hat. Dort wurden 6 Personen verhaftet und gefoltert, mit dem Vorwurf, die erste Sektionen des „Netzwerks“ gegründet zu haben – einer anarchistischen Organisation, die während der Präsidentschaftswahlen und der Fußballweltmeisterschaft in Russland Terroranschläge plante. Dies war jedenfalls die Version des Geheimdienstes. Die aus den Menschen herausgeprügelten Zeugenaussagen wiesen wenig Bezug zur Realität auf.
Nachdem die Solidaritätskampagne mehrere Monate lief, wurde bekannt, dass die Überwachung der Aktivist*innen durch die Polizei ursprünglich begann, weil einige von ihnen in Drogengeschäfte verwickelt waren – drei von ihnen wurden bereits im Frühjahr 2017 beim Verstecken von Drogen [1] in Penza festgenommen. Mindestens einer der Inhaftierten wurde zu diesem Zeitpunkt bereits von der Polizei angeworben. Später beschloss der FSB, mit der Konstruktion des „Netzwerks“ fortzufahren. Etwa zur gleichen Zeit konstruierte der FSB ebenfalls ein Verfahren gegen eine rechte Gruppe, die angeblich die gleichen Taten wie das „Netzwerk“ plante. Beide Fälle waren Teil einer Kampagne zur Einschüchterung der Öffentlichkeit durch eine Bedrohung von bewaffneten anarchistischen und rechten Gruppen.
Solidaritätskampagne
Der Fall erlangte fast von Beginn an nicht nur in anarchistischen, sondern auch in liberalen Kreisen große Resonanz. Ziemlich schnell wurde die Geschichte der unschuldigen sozialen Aktivist*innen, die an nichts Illegalem beteiligt waren, kreiert. Nur um das klarzustellen: das ist nichts Neues. Nicht selten werden politische Vorstellungen von verfolgten Anarchist*innen und Antifaschist*innen aufgeweicht, um Unterstützung von der liberalen Opposition gegen Putin zu erhalten. Im Falle des Netzwerkes hat das sehr gut funktioniert, berühmte Politiker*innen, Schauspieler*innen und Sänger*innen brachten ihre Unterstützung für die Gefolterten zum Ausdruck.
Allerdings hat das auch seinen Preis. Um eine so breite Unterstützung zu erhalten, wurden die verfolgten Aktivist*innen als gute Menschen mit starker moralischer Überzeugung dargestellt. Sie spielten Airsoft und organisierten soziale Projekte. Jede Information, die dieses Bild ein wenig anders aussehen ließ, wurde im Namen der etablierten politischen Kampagne verschleiert. Das Ziel dieser Kampagne war es, die Menschen aus dem Gefängnis zu holen oder zumindest die Haftzeiten so gering wie möglich zu halten. Wir nehmen an, dass keine*r mit derart harten Gefängnisstrafen von 6 bis 18 Jahren im Lager gerechnet hat.
It´s hard to be perfect
Mit diesem Ideal im Hinterkopf wurden also nicht nur die breite Öffentlichkeit, sondern auch die Menschen, die Solidarität organisierten, dazu gedrängt, dieses Idealbild von Aktivist*innen zu unterstützen, die gegen Putin kämpfen und sonst alles richtig machen. Aus dieser Perspektive war dann die erste Information, welche von der Solikampagne nicht veröffentlicht wurde, die Zusammenarbeit von Igor Schischkin mit der Polizei. Mehrere Monate lang leugnete die Kampagne diesen Vorwurf, obwohl Schischkin zu diesem Zeitpunkt bereits in einer „besonderen“ Zelle saß und eine von Putins Marionetten ihm im Gefängnis einen Fernseher schenkte.
Einige Monate später erschien die Geschichte über die Drogen in Penza, welche überhaupt nicht in die Öffentlichkeit kam. Wir in Dresden wussten zwar, dass die Drogen der Anfang der Ermittlungen waren, aber es ist unklar, welche der anderen Soligruppen noch davon wussten. Im Anschluss erschien es so, als ob alle internen Probleme in dem Fall geklärt waren. Schischkins Unterstützung wurde zurückgezogen und die übrigen Verhafteten wurden weiter als Ziele des Staatsterrors hingestellt, mit der Vorstellung, dass sie gute Menschen sind.
Im Herbst 2019 erschien zunächst auf Russisch, dann auf Englisch die Information, dass einer der Penza-Aktivisten, Arman Sagynbaev, in mehreren Fällen sexuelle Gewalt gegen Frauen verübt hatte. Dazu gehörten Vergewaltigung sowie das Nötigen von Frauen zu ungeschütztem Sex, obwohl er HIV-positiv getestet wurde. Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, waren Versuche von Sagynbaev, eine der Frauen, die ihn im Gefängnis unterstützten, zur Heirat und zu ungeschützten sexuellen Beziehungen zu manipulieren. Einige der Frauen beschlossen, ihre Geschichten zu veröffentlichen, um andere vor Übergriffen, Vergewaltigungen und einer HIV-Infektion zu schützen. Einige ihrer Geschichten wurden auf Englisch veröffentlicht – http://arman.people.ru.net/en/ (Achtung – einige Geschichten enthalten detaillierte Beschreibungen von Gewalt). Das Verhalten von Sagynbaev war den Menschen in der Solikampagne seit längerem bekannt. Tatsächlich war Arman von mehreren anarchistischen „Szenen“ in verschiedenen Städten ausgeschlossen worden, konnte aber in eine andere Stadt umziehen und sein übergriffiges Verhalten fortsetzen. Einige Leute aus dem Umfeld der Solidaritätskampagne räumten später ein, dass er aus deren Sicht keine Bedrohung für Menschen draußen darstellen konnte.
Innerhalb der Unterstützungsgruppe war es jedoch wichtig, eine stabile Solikampagne zu führen, anstatt sein bisheriges Verhalten transparent zu machen. Nach der Veröffentlichung musste Rupression eine andere, von außen erzwungene Position einnehmen – sie unterstützten Sagynbaev nicht mehr. [2]
Die letzte Wendung in der Geschichte kam, als im Februar 2020 nach der Verurteilung in Penza in den liberalen Medien berichtet wurde, dass einige der Angeklagten im Penza-„Netzwerk“ des Mordes an zwei ihrer Freund*innen, die mit dem Drogengeschäft in Verbindung standen, verdächtigt werden. Beide wurden über ein Jahr lang vermisst und erst im Herbst 2019 wurde eine verweste Leiche in den Sümpfen zwischen Penza und Moskau gefunden.
Der Quelle für diese Behauptung war die Aussage einer Person, die immer noch vom FSB im Zusammenhang mit dem „Netzwerk“ gesucht wird. Außerhalb Russlands gab er in relativer Sicherheit zu, die bereits gefundene Person ermordet zu haben. Er sagte gegenüber Journalist*innen, dass die andere Person von Maxim Ivankin getötet worden sei und erzählte, wo sich die zweite Leiche befindet (die Leiche wurde einige Wochen später etwa 100 Meter von der ersten entfernt von der Polizei gefunden). Die Autor*innen sagten auch, dass mehrere Personen aus Penza von den Hinrichtungen wußten. In den Chat-Protokollen wurden sie als „Probleme“ erwähnt, um die sich gekümmert werden sollte (die Anwält*innen der Angeklagten gaben an, dass diese Protokolle vom FSB gefälscht wurden). Später erschien auf demselben Portal ein zweiter Artikel, der hauptsächlich von der untergetauchten Person geschrieben wurde und mehr Einzelheiten über den Mord und die Art und Weise, wie er dazu kam, enthielt. Dieser Artikel implizierte, dass jeder aus Penza außer Wasilij Kuksow von der Hinrichtung wusste. Der Artikel über die Zeugenaussage wurde ins Englische übersetzt und ist hier nachlesbar – https://meduza.io/en/feature/2020/03/10/i-said-sorry-before-i-fired.
Am ersten Tag der Veröffentlichung wurde bekannt, dass die Solidaritätskampagne fast ein Jahr lang von der Verbindung zu dem Mord wusste, diese Information aber geheim hielt. Zuerst gab es einige interne Recherchen, die sie zum gleichen Ergebnis über den Mord brachten, aber diese Informationen reichten ihnen offensichtlich nicht aus, um die Sache klarzustellen. Diese Information wurden auch an die Journalist*innen weitergegeben. Außerdem begannen diese, sich als Klatsch innerhalb der „Szene“ zu verbreiten, allerdings scheint es, dass sie keine organisierten anarchistischen Gruppen in Ost- oder Westeuropa erreicht hatten.
Rupression reagierte darauf, in dem sie über die unpassende Zeit der Veröffentlichung sprachen. Auch die Autor*innen des Artikels wurden angegriffen, weil sie ihre eigene Agenda verfolgten. Einige Leute glaubten, dass das Informationsleck eine Polizeioperation war oder andere Gegner*innen der anarchistischen Bewegung. Einige liberale Gruppen, die viel Zeit und Ressourcen in die Verteidigung des „Netzwerks“ investiert hatten, begannen, die Penza-Aktivisten sogar mit noch mehr Energie zu verteidigen.
Bis jetzt ist es noch unklar, ob einige Leute aus Penza tatsächlich in den Mord verwickelt sind. Keine*r außer der Person außerhalb Russlands hat Verantwortung für das Geschehene übernommen.