Wir haben unsere Erfahrungen während des Kongresses in St. Imier absichtlich für uns behalten. Es gab viel Gutes und Solidarität. Aber wir und Gefährt*innen aus verschiedenen Teilen Osteuropas mussten wegen unseren Positionen zum Krieg in der Ukraine, auch viel aushalten. In Anbetracht der Tatsache, dass die meisten Leute, die Kritik über uns und unsere Ideale äußern, es kaum schaffen, weiter als ein paar Sätze in unseren Texten zu lesen, wollen wir es ganz klar sagen: Wir sind gegen den Krieg in der Ukraine und gegen die Militarisierung der Gesellschaft. Was wir jedoch in den letzten Jahren gelernt haben, ist, dass diese einfachen Werte unterschiedlich interpretiert werden, je nachdem aus welchem Teil der Welt/politischen Lager Menschen kommen. Du kannst Sarah Wagenknecht sein, die gegen den Krieg zugunsten des russischen Imperiums ist. Du kannst auch ein russischer Soldat sein, der mit einer Waffe in der Hand gegen den Krieg in der Ukraine kämpft, Völkermord begeht und Hunderte von unschuldigen Menschen tötet, weil er glaubt, dass Frieden nur durch die vollständige Vernichtung des ukrainischen Volkes erreicht werden kann. Du kannst ein westlicher intellektueller Linker sein, der gegen den Krieg ist, weil es so in den Büchern steht, aber in Wirklichkeit sind die soziale Revolution und der Krieg für dich nur Worte ohne jegliche Bedeutung.
Dieser Krieg sollte, wie viele andere Kriege auch, vorbei sein. Aber es gibt so viele verschiedene Szenarien, die viele verschiedene Konsequenzen, nicht nur für die Menschen in Osteuropa, sondern auch für den Rest der Welt haben, dass wir sie nicht ignorieren und einfach immer wieder die gleichen Sätze wiederholen können. Zum Beispiel würde das Ende des Krieges mit der Übergabe riesiger Gebiete an den russischen Staat ein Beispiel für andere Staaten mit imperialen Ambitionen sein, dass dies trotz aller Gespräche über Frieden und Deeskalation auch im 21. Jahrhundert möglich ist. Ein Teilsieg Russlands würde die weitere Militarisierung des russischen Staates und die Verbreitung der Ideologie der „Russischen Welt“ bedeuten, die bereits Auswirkungen auf verschiedene Teile des Planeten hat. Und das ist nur eines der Szenarien, die auf dem Tisch liegen. Als politische Aktivist*innen können wir die Realität und die mögliche Zukunft nicht zugunsten einiger ideologischer Aussagen ignorieren, die als einziger Weg für Anarchist*innen proklamiert werden.
Wir wollen auch klarstellen, dass wir den Militarismus ablehnen – eine Ideologie des Staates, die darauf abzielt, seine Macht durch militärischen Stärke innerhalb und außerhalb seiner Grenzen auszuweiten. Als Antimilitarist*innen sind wir uns bewusst, dass jede militärische Macht nur durch die Macht der Bevölkerung von unten bekämpft werden kann. Wir sind uns auch bewusst, dass die westlichen Gesellschaften es vorgezogen haben, die Militarisierung der Diktaturen durch ihre Regierungen in Deutschland, Frankreich, England, Spanien und den USA zu ignorieren. Die Gräueltaten, die der russische Staat in der Ukraine, in Syrien, Georgien und an anderen Orten der Welt begangen hat, sind nur die Spitze des Eisbergs. Das Kriegsgeschäft lief gut, während die Menschen im Westen, unter denen sich auch Anarchist*innen und Linke befinden, den Frieden der sogenannten ersten Welt genossen. Wenn wir die Militarisierung der westlichen Länder wirklich stoppen wollen, müssen wir uns dem Prozess der Militarisierung von Länder mit imperialen Ambitionen wie China, der Türkei, Russland und anderen entgegenstellen. Wir sind der festen Überzeugung, dass die Voreingenommenheit der westlichen Linken und einiger Teile der anarchistischen Bewegung bezüglich Waffen für die Ukraine auf einen weiteren Einfluss der Propaganda Russlands und anderer Staaten bei der Festlegung von Schwerpunkten im internationalen Kampf hindeutet.
Damit kommen wir zu dem Text, der über das ABC Dresden und unsere Freund*innen und Gefährt*innen bezüglich einer der Veranstaltungen in St. Imier geschrieben wurde. Inzwischen hat dieser Text in einigen anarchistischen Medien viel Aufmerksamkeit erregt. Wir möchten uns mit ihm auseinandersetzen und unsere Sicht der Dinge darlegen, um keinen Raum für weitere Manipulationen und Desinformationen innerhalb der Bewegung zu lassen.
Einfach falsche Aussagen
In den letzten Jahren haben wir viel darüber gelernt, wie Desinformation funktioniert – sie vermischt bestimmte Teile, die wahr sind mit Falschinformationen oder bringt unliebsame Fakten in eine neue Form. Es ist für uns unklar, ob die Autor*innen des Textes dies mit Absicht getan haben (was beunruhigend wäre) oder aus Ignoranz (was noch beunruhigender wäre, da die Verbreitung falscher Gerüchte der anarchistischen Bewegung sehr leicht schaden kann). Lasst uns also die falschen Teile des Textes mal durchgehen.
- Das erste, was uns aufstößt, ist die Aussage über eine WOZ-Journalist*in, die auf der Podiumsdiskussion gesessen haben soll – wir haben uns bei allen Personen, die für ihre Gruppen auf dem Podium saßen, rückversichert und können dies ausschließen. Es könnte sein, dass einer der WOZ-Journalistinnen eine der Gruppen an der Podiumsdiskussion infiltriert hat, aber das ist völliger Unsinn. Offenbar versuchen die Autor*innen, diese Veranstaltung für ihre eigenen Probleme mit den politischen Perspektiven der WOZ-Zeitschrift zu nutzen. Es bleibt unklar, was das mit dem ursprünglichen Fokus des Textes, Solidarity Collectives oder den anderen anarchistischen Gruppen zu tun hat.
- Die Veranstaltung während des Kongresses in St. Imier wurde ursprünglich von ABC-Belarus angemeldet und von mehreren anarchistischen Soligruppen und Einzelpersonen organisiert. Es ist falsch, die Verantwortung für die Veranstaltung und ihren Verlauf ausschließlich Solidarity Collectives zuzuschreiben.
- Solidarity Collectives haben wie jede*r andere nichtstaatliche, nichtmilitärische Akteur*in keinen Zugang zu Waffen. Keine Anarchist*innen oder andere Gruppen haben Zugang zum Kauf von Waffen für die Gefährt*innen in der Ukraine – die gesamte Waffenproduktion und -lieferung erfolgt über den militärisch-industriellen Komplex, zu dem Zivilist*innen keinerlei Zugang haben. Das, was am ehesten als „militärisch“ bezeichnet werden könnte, ist der Kauf von Zielfernrohren als Teil der Ausrüstung, die bereits an die Soldat*innen ausgegeben wurde. Ansonsten wird das Geld für Autos, medizinische Ausrüstung und Schutzausrüstung (die sowohl von Soldat*innen als auch von medizinischem Personal oder Freiwilligen genutzt werden kann) verwendet. Einer der Gründe, warum Aktivist*innen zur Armee gingen, war die Tatsache, dass es für Anarchist*innen und andere Antiautoritäre nicht möglich war, Waffen für den Kampf gegen die russische imperiale Invasion zu organisieren.
- Das in dem Artikel erwähnte T-Shirt mit der Kalaschnikow ist Teil des Fundraisings von Resistance Committee und hat nichts mit Solidarity Collectives zu tun.
- Bei mehreren Gelegenheiten brachten die Autor*innen des Artikels Namen von Personen mit Solidarity Collectives oder unserer Gruppe in Verbindung. Das sind falsche Annahmen. Außerdem gehört es im Allgemeinen nicht zum guten Ton, Mitglieder anonymer Gruppen in der Öffentlichkeit zu benennen.
Lasst uns über Plakate reden…
Das Hauptinteresse der Autor*innen ist ein Angriff gegen ein antimiltaristisches Plakat vor Beginn der Podiumsdiskussion. Der Inhalt der Diskussion scheint überhaupt nicht von Interesse zu sein. Um zu verstehen, worüber inhaltlich gesprochen wurde, könnt ihr euch die Aufzeichnung der Veranstaltung hier anhören – https://abcdd.org/en/2023/09/14/anarchists-at-war-critical-analysis-of-solidarity-in-context-of-war-in-ukraine/. Was das Poster betrifft, so gibt es noch ein paar Dinge zu erwähnen.
Zunächst einmal war das Problem für die meisten Anwesenden nicht das Poster oder dessen Inhalt, sondern die Botschaft, die die Autor*innen des Posters während der gesamten Dauer des Kongresses zu vermitteln versuchten. Es war klar, dass Antimilitarismus auf diesem Plakat in eine sehr spezifische Richtung geht. Es war klar, dass „gegen jeden Krieg“ eher eine Botschaft ist, den aktuellen Kampf gegen die russische Invasion aufzugeben, um die Bedürfnisse nach Friedens in Westeuropa zu befriedigen. Eine der Personen, die sich selbst als Transfrau identifiziert, machte dies bei anderen Präsentationen vor St. Imier und während des Kongresses sehr deutlich. Es war nicht die erste Veranstaltung, die diese Person besuchte, an der Mitglieder von Solidarity Collectives teilnahmen. Es war auch nicht die erste Veranstaltung von Solidarity Collectives, die diese Person mit Aktionen zu sabotieren versuchte.
Unmittelbar vor der Podiumsdiskussion fand ein öffentliches Treffen der selbsternannten antimilitaristischen Gruppe statt, von der ein Teil zu der Veranstaltung kam, um diese zu stören. Viele Menschen, die vor der Podiumsdiskussion an Präsentationen/Workshops zur Ukraine teilgenommen hatten, wurden Zeug*innen zahlreicher Versuche von selbsternannten Antimilitarist*innen, diese Veranstaltungen zu stören. Sie stürmten in die Räume und schrien laut in ihrer eigenen Sprache, ohne zu versuchen, Raum für Übersetzungen zu schaffen oder andere Stimmen zu hören, bis hin zur Verbreitung von Gerüchten über Kriegspropaganda, die über ABC-Infostände verteilt werden soll (einer der Teilnehmenden besuchte unseren Tisch nach einer dieser antimilitaristischen Treffen und sagte, dass wir als eindeutig militaristisch in dieser Geschichte dargestellt wurden).
In Anbetracht all dessen wäre es naiv zu glauben, dass solche Handlungen von den Autor*innen als Provokation angesehen werden können. In der Tat bezweifeln wir stark, dass diese Aktion aus ehrlicher Unschuld erfolgte, sondern vielmehr von der Person selbst erwartet wurde. Leider versäumen es die Autor*innen des Artikels, darauf hinzuweisen, dass dies nicht der einzige Konflikt vor und während der Podiumsdiskussion war. Eine Gruppe italienischsprachiger Personen, die in einer der ersten Reihen saß, schnitt bereits Grimassen, bevor wir überhaupt zu sprechen begannen. Wir waren zutiefst schockiert, als die Schweigeminute zum Gedenken an alle Opfer des russischen Imperialismus durch das Lachen eines so genannten „italienischen Anarchisten“ unterbrochen wurde. Offenbar hat die Entsolidarisierung in einigen anarchistischen Kreisen ein solches Ausmaß angenommen, dass sich manche über die toten Gefährt*innen lustig machen. Das ist es, was zumindest ein Teil der sogenannten Antimilitaristinnen als echten Anarchismus im 21. Jahrhundert betrachten.
Was die Situation mit dem Plakat angeht… Die Person, die das Plakat weggenommen hat, ist eine nichtbinäre Person aus der Ukraine, die aus der Armee desertiert ist. Diese Person hatte überhaupt nicht die Absicht, irgendjemanden anzugreifen, sie hat nur das Plakat genommen. Die Gründe waren das grundsätzlich destruktive, ignorante Auftreten der sogenannten Antimilitarist*innen und die Unkenntnis über die Situation in der Ukraine, die damit einhergeht. Von den Autor*innen des Textes wird die Person als aggressiver jungen Mann beschrieben, der versucht, eine trans Frau anzugreifen. Diese Beschreibung scheint in das allgemeine Narrativ von militaristischen und aggressiven Osteuropäern zu passen. Wir sind solidarisch mit trans Menschen und das Misgendern ist ein Versehen gewesen, für das wir uns entschuldigen. Menschen wollten ihr nicht ihre Identität absprechen oder diese in Frage stellen.
Auch die Tatsache, dass die Person die Plakate eingepackt hat und gegangen ist, ist ein Stück verfälschter „Wahrheit“ der Situation – in der Tat hat während des Gesprächs jemand angeboten, dass jede*r aus dem Publikum die Plakate mitnimmt und wir das Gespräch einfach beenden. In Anbetracht des gesamten Textes war das offenbar der Sinn, die Besucher*innen der Veranstaltung zu agitieren – also sollten diese doch auch Poster mitnehmen dürfen? Sobald einige Leute jedoch anfingen, Plakate zu nehmen, beschloss die Person, sie wieder einzupacken und die Provokation zu beenden.
Nach diesem Konflikt, der sich vor der Veranstaltung ereignete, konnten wir zunächst nicht beginnen. Eine Gefährtin von Solidarity Collectives, musste das Podium zeitweise verlassen, da sie ein paar Minuten nach dieser Eskalation für sich brauchte. Im Text wird diese Situation mit einer kaum vorstellbaren Arroganz beschrieben. Aber diese Arroganz zeigt auch, wie viel Respekt oder Mangel an Respekt die Autor*innen gegenüber Aktivist*innen aus der Ukraine haben, obwohl sie versuchen, in den Diskussion soweit es geht, neutral zu sein. Menschen, die das Kriegsgebiet verlassen haben, in einer solchen Weise anzugreifen, hat nicht nur nichts mit Anarchismus, sondern auch mit Vorstellungen eines anständigen Menschens nichts zu tun.
Wir sollten also klarstellen, dass das Problem nicht bei einem Plakat liegt. Der Inhalt des Plakats würde, von den meisten Anarchist*innen, die die ukrainischen Menschen unterstützen, mitgetragen werden. Aber die Absicht, die eigene sehr fragwürdige Position hinter dem Slogan „gegen alle Kriege“ zu verstecken, ist genau der Grund, der andere provoziert da sie dies im Zusammenhang mit dem lang anhaltenden Versuch sehen, die Solidarität mit der ukrainischen Bevölkerung aus verschiedenen Teilen der anarchistischen Bewegung im Westen zu sabotieren.
Soll ich bleiben oder soll ich gehen…
Lasst uns nun kurz über das für die Autor*innen des Textes so verstörende Argument sprechen, selbst nach Russland oder Belarus zu gehen. Dies wird von vielen Antimilitarist*innen als Trick angesehen, um die Diskussion zu beenden. Uns ist allerdings nicht klar warum. Die meisten Europäer*innen haben einen recht einfachen Zugang zu Russland, Belarus und der Ukraine. Kritik an diesem Argument würde Sinn ergeben, wenn Aktivist*innen aufgrund eines zu hohen Risikos, verhaftet, strafrechtlich verfolgt oder getötet zu werden, nicht in diese Länder reisen könnten. Aber für westliche Aktivist*innen liegt dieses Risiko nahezu bei Null. Warum also fühlen sich einige durch dieses einfache Angebot angegriffen? Zuerst kam es von einem Gefährtin aus Belarus, der anbot bei der Organisation der gesamten Reise helfen zu können. Später kam es von Gefährt*innen aus der Ukraine, die bereit sind, allen Interessierten aus der anarchistischen Bewegung die Realität des Krieges zu zeigen. Wir haben jedoch festgestellt, dass viele selbsternannte Antimilitarist*innen es vorziehen, sich von den Gefahrenzonen fernzuhalten und zur Waffenniederlegung aus der sicheren Entfernung der Festung Europa aufzurufen. Wie konnte das mit der revolutionären Bewegung passieren, deren Aktivist*innen sich seit Generationen in soziale und politische Konflikte begeben, um die Welt zu verstehen und zu verändern?
Es ist nichts Polemisches daran, in die Länder der ehemaligen Sowjetunion zu reisen. Sogar innerhalb unseres eigenen Kollektivs sehen wir einen großen Unterschied im Verständnis der sozialen und politischen Organisierung in diesen Länder zwischen Personen, die in Russland, Belarus oder der Ukraine waren und solchen, die diese Länder nie besucht haben. Manchmal muss mesch neben der politischen Ideologie die Dinge tatsächlich sehen, um sie richtig zu verstehen. Deshalb ist eine Reise in die Ukraine, nach Russland oder sogar Belarus für das Verständnis des russischen Krieges in der Ukraine unerlässlich. Schließlich gibt es einen Grund, warum die meisten Aktivist*innen östlich von Deutschland keine Probleme damit haben, die Gefährt*innen in der Ukraine zu unterstützen, die selbst unter den prekärsten Bedingungen kämpfen.
Aber anscheinend sind die Aufrufe zum Frieden und zur Unterstützung derjenigen, die unter dem Krieg leiden, für bestimmte Teile der anarchistischen Bewegung polemischer als tatsächlich etwas zu tun. Aus der Diskussion heraus haben wir verstanden, dass wir es sind, die unsere Arbeit aufgeben sollen und anfangen müssen, die berühmten Deserteure zu unterstützen. Es sind Ukrainer*innen und nur sie, die ihr Leben riskieren, indem sie sich der Gnade der siegreichen Kremltruppen ausliefern sollen. Warum ist das so? Wie kommt es, dass die Leute so stark darauf drängen, die Solidarität einzustellen? Dass Leute sogar in ihren Statements fordern, dass Anarchist*innen, die Geld sammeln und Solidarität mit den ukrainischen Menschen organisieren, selbst in die Schützengräben gehen sollen, während dieselben Leute nicht einmal den Mut haben, für kurze Zeit in die Ukraine zu fahren, um mit eigenen Augen zu sehen, wie der moderne Krieg aussieht? Dies sind ehrlich gemeinte Fragen und nicht der Versuch, den Leuten jegliche Argumentation zu nehmen…
Häufig wenn wir die Texte moderner Pazifist*innen lesen, finden wir, wie nun auch in dem Text zu St. Imier, den Wunsch zu diskutieren. Wir müssen uns zusammensetzen und darüber reden. In denselben Texten wird Menschen aus unserer Gruppe und anderen Kollektiven, die sich in Solidarität mit den Menschen aus der Ukraine organisieren, aggressive Rhetorik und Unfähigkeit zum Gespräch vorgeworfen. Unsere Erfahrung in St. Imier hat solche Mythen völlig zerstört. Anstelle von Gesprächsversuchen sehen wir anhaltende Bestrebungen, Fehlinformationen und offensichtliche Lügen zu verbreiten, um die Solidarität mit denjenigen zu sabotieren, die keine Macht über die Ressourcen in der sogenannten ersten Welt haben. Und der Text über die Veranstaltung in St. Imier zeigt sehr gut, wie offen diese „Antimilitarist*innen” für Diskussionen sind: der Text mit Kritik an einem Kollektiv aus der Ukraine wurde nur auf Deutsch veröffentlicht, Forderungen an dieses Kollektiv wurden nur auf Deutsch formuliert, Fragen an das Kollektiv wurden auf Deutsch gestellt. Kommentare sind unter dem genannten Artikel verboten. Es tut uns leid, aber das ist kein Weg, um eine Diskussion über Ländergrenzen hinweg in irgendeiner Weise zu beginnen. Es ist ein Weg, eine Aussage zu treffen, um eigene Überlegenheit zu demonstrieren, welche eindeutig in einem sehr begrenzten Raum von deutschsprachigen Linken und Anarchist*innen bleibt…
Die Realität einer „Diskussion“ bestand tatsächlich darin, dass eine Gruppe von Leuten aus Osteuropa es vorzog, den Veranstaltungsraum durch den Hintereingang zu verlassen, weil „Antimilitarist*innen“ am Hauptausgang blieben, mit der Absicht, die Leute aus unserem Kollektiv und andere Teilnehmer*innen der Podiumsdiskussion zu „konfrontieren“ (was auch immer das bedeutet). Wie das als eine Diskussion bezeichnet werden kann, ist schwer nachzuvollziehen. Gleichzeitig haben keine Menschen aus diesen Gruppen versucht, uns an anderen Stellen des Kongresses oder an unseren Infotischen anzusprechen.
Wir glauben nicht, dass diese Gruppe von Leuten eine ernsthafte Diskussion führen möchte, da wir immer wieder den Eindruck bekommen, dass sie bloß eine Plattform suchen, um ihre Ansichten zu präsentieren und keine Diskussion darüber führen, wie mit der Kriegssituation und der tiefen Krise der anarchistischen Bewegung umgegangen werden soll. Die „Diskussion“ endet eigentlich, wenn „Antimilitarist*innen“ erklären, dass wir gegen alle Kriege sind. Es gibt keinen Platz für andere Positionen als den Pazifismus. Und diese Position geht einher mit einer gehörigen Portion Ignoranz und keinerlei Empathie für die Aktivist*innen aus den Regionen und ihren Erfahrungen, die nicht mit den „antimilitaristischen“ Perspektiven übereinstimmen.
Wir finden es verstörend, dass die anarchistische Bewegung, die einst revolutionär war immer mehr zu reiner Theorie verkommt und mehr und mehr den Bezug zur Realität verliert. Seit über einem Jahr haben wir keine vernünftigen Vorschläge oder Angebote von so genannten defätistischen Positionen gesehen, die die realen Menschen und ihr Leben berücksichtigen. Wir sehen, dass sich Teile der anarchistischen Bewegung zugunsten unklarer Ziele völlig von der objektiven Realität entfernt haben. Seid ihr wirklich bereit, Frieden mit Russland zu schließen, ohne über die Konsequenzen nachzudenken, die das für Menschen innerhalb und außerhalb des Landes haben würde? Seid ihr der Ansicht, dass Anarchist*innen sich nicht an irgendwelchen Kriegen beteiligen sollten, unabhängig von ihrem historischen und politischen Hintergrund? Sollten wir in diesem Fall nicht auch alle verurteilen, die im Zweiten Weltkrieg gegen die Nazis gekämpft haben? Oder diejenigen, die zu den Waffen griffen, um gegen die Kolonialherrschaft Frankreichs, Deutschlands, Großbritanniens und vieler anderer zu kämpfen? Wird der Anarchismus zu einer Ideologie des radikalen Pazifismus, indem sich von den Kämpfen anderer Menschen für ihre Freiheit zugunsten des Friedens im Westen abgewendet wird?
Für uns ist die Antwort ganz klar – nein. Wir werden uns nicht hinter dem bequemen Frieden des deutschen Staates verschanzen, der durch die wirtschaftliche und politische Vorherrschaft der westlichen Staaten durchgesetzt wird, die gleichzeitig jedes Jahr zu Kriegen rund um den Globus beitragen. Wir werden unser Bestes tun, um unsere Solidarität mit den Menschen in der Ukraine und anderen Ländern in Wort und Tat praktisch werden zu lassen. Denn wir glauben, dass es der einzige Weg für Anarchist*innen ist, sich am Kampf für die Freiheit und gegen die Unterdrückung von Staaten zu beteiligen. Als Anarchist*innen im Westen ist es unsere Pflicht, von den Kämpfen zu lernen, die weltweit von unseren Gefährt*innen geführt werden. Auch da wir an unseren eigenen Orten nicht viel Vernünftiges zustande bringen, um die kapitalistische Ausbeutung oder die ökologische Katastrophe zu stoppen, die hauptsächlich durch unsere Lebensweise verursacht und dem Rest der Welt aufgezwungen wird.
Forderungen, Forderungen, Forderungen!
Es ist generell ziemlich problematisch zu sehen, dass einige Aktivist*innen aus dem Westen etwas von Menschen im Krieg fordern. Und der aktuellen Diskussion im Internet nach zu urteilen, werden die Forderungen meist in Richtung ukrainischer Gefährt*innen gestellt und nicht an die Anarchist*innen in Russland adressiert. Ukrainische Anarchist*innen sollten dies und das tun. Offensichtlich sind es die Ukrainer*innen, die etwas falsch machen, und die russische Gesellschaft tut ihr Bestes, um in den Augen der so genannten Antimilitarist*innen widerständig zu sein…
Aber im Allgemeinen sehen wir keinen Sinn darin, jede Forderung, die in dem Text auftaucht, durchzugehen. Er ist eindeutig aus polemischen Gründen verfasst worden und zeigt einmal mehr, dass es kein Interesse gibt, praktische Lösungen für die Probleme des Krieges zu finden, sondern vielmehr eine Erklärung abzugeben. Dabei spielt es keine Rolle, dass diese Aussage auf einer verklärten Realität zu beruhen scheinen oder die politische und soziale Situation völlig verkannt wird. In diesem Zusammenhang könnte man genauso gut die vollständige Entmilitarisierung der Ukraine und die dringende Kapitulation Putins fordern. Euer absurdes Theater wird von denjenigen ernst genommen werden, die vielleicht eure Meinung teilen und sich nicht wirklich für anarchistische Kämpfe und weitere Strategien interessieren. Aber diese Art von Fantasiewelt wird weiter Menschen von revolutionären Ideen entfremden, die in der Vergangenheit die Massen für die Idee einer freien Gesellschaft zusammengebracht haben. Anstatt sich mit der Weiterentwicklung unserer Bewegungen zu beschäftigen, haben wir den Eindruck, dass Leute nur interessiert daran sind, eine Welt zu schaffen, in der sie auf dem antiautoritären Thron des Anarchismus in der Festung Europa sitzen und entscheiden, wer echte*r Anarchist*in ist und wer ins Exil in die Schützengräben der kolonialen Kriege geschickt werden sollte.
Wir glauben, dass Anarchist*innen in den westlichen Ländern etwas weniger damit beschäftigt sein sollten, Forderungen an Gefährt*innen in anderen Ländern zu stellen. Stattdessen sollte damit begonnen werden, den Bedürfnissen derjenigen, die ihr Leben dem Kampf und der Revolution widmen, etwas mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Wir müssen uns viel mehr darum bemühen, praktische Solidarität zu leben als wir es aktuell tun und aufhören, nach Ausreden zu suchen, um unser bequemes Leben so weiterzuführen, wie es ist. Die Welt befindet sich in einem permanenten Krisenzustand und wir können in unserer Organisierung nicht weiter so tun, als ob um uns herum nichts passieren würde. Mit solchem “Aktivismus” riskieren wir, in Desinformation und polemischen Gesprächen zu ertrinken, anstatt auf eine revolutionäre Bewegung hinzuarbeiten.
Wir müssen den Antimilitarismus von denen zurückerobern und zurückfordern, die ihn für ihre Ängste und persönlichen Ambitionen missbrauchen. Politischer Antimilitarismus ist ohne Solidarität mit denjenigen, die auf der ganzen Welt unter dem Militarismus leiden, unmöglich. Die Aufrufe, der Menschen aus der Ukraine zugunsten des „Friedens“ als einzig wahre antimilitaristische Position im Stich zu lassen, stoßen uns in die Vergangenheit zurück, als würden wir nicht einmal versuchen, die Machtdynamik hinter der gesamten Militarisierung der modernen Welt zu verstehen.
Es ist an der Zeit zu sagen, dass wir Antimilitarist*innen sind und wir aus diesem Grund den Widerstand der ukrainischen Bevölkerung gegen die russische Kriegsmaschinerie unterstützen, die sich seit Generationen vom Leben derjenigen ernährt, die keine Macht haben. Wir sind Antimilitarist*innen und deshalb glauben wir, dass der russische militärisch-industrielle Komplex bekämpft werden muss. Ansonsten wird er seine Expansion in Osteuropa, Zentralasien und Afrika fortsetzen. Wir sind Antimilitarist*innen, weil wir glauben, dass Anarchist*innen in Krisenzeiten an der Seite der Unterdrückten gegen die Unterdrücker stehen müssen, auch wenn es an der Zeit ist, zu den Waffen zu greifen. Wir sind Antimilitarist*innen, weil wir glauben, dass Imperien fallen sollten und auf ihren Trümmern eine freie und gerechte Welt aufgebaut werden kann.
Anarchist Black Cross Dresden
Oktober 2023