Wir veröffentlichen hier einen Text aus Griechenland, welcher sich mit dem Thema Impfung beschäftigt. Wir stimmen als Kollektiv nicht mit allen getätigten Aussagen komplett überein, halten den Text aber nichtsdestotrotz für einen wichtigen Beitrag, welcher zu weiteren Diskussionen anregen soll.
Wie steht’s mit den Impfungen?
Während der griechische Staat – wie viele andere europäische Staaten auch – den Druck auf die Bevölkerung erhöht, sich gegen Covid-19 impfen zu lassen, scheinen sich viele diesem Zwang der „verantwortungsvollen Entscheidung“ gebeugt zu haben. Wir möchten klarstellen, dass wir der Meinung sind, dass jeder Mensch legitime Gründe haben kann, sich impfen zu lassen. Wir fällen kein moralisches Urteil darüber, ob man sich impfen lassen sollte oder nicht. Aber wir sind nach wie vor zurückhaltend. Wir sind der Meinung, dass der ganze Diskurs über die Übernahme von Verantwortung in Wirklichkeit darauf abzielt, dem Staat mehr Macht zu verleihen, indem eine zweigeteilte Gesellschaft mit Privilegien für diejenigen, die sich den Vorgaben fügen, und Sanktionen für diejenigen, die sich nicht fügen wollen oder können, geschaffen wird. Dies bedeutet eine Verstärkung von Kontrolle und Ungleichheit.
Glaubt den Anführern
Wir glauben nicht, dass wir uns lange damit befassen müssen. Wir sind gezwungen worden, Masken zu tragen, als wir allein in einem Park spazieren gingen. Wir wurden bestraft, weil wir nachts auf der Straße waren, während die U-Bahnen tagsüber überfüllt waren. Wir wurden beschimpft, weil wir auf den Plätzen saßen, während die Arbeitsplätze in den Innenräumen voll ausgelastet waren. Und wir haben gesehen, wie sie zynisch die Kosten für die Bereitstellung zusätzlicher Krankenhausbetten gegen die Schließung von Teilen der Wirtschaft abwägten. Wir haben gesehen, wie sie sich dafür entschieden haben, mehr Polizist:innen einzustellen, während die Gesundheit der Menschen auf dem Spiel stand. Wir haben gesehen, wie sie versucht haben, jede Form von Protest zu unterdrücken, während sie noch mehr ausbeuterische und unterdrückerische Maßnahmen durchgesetzt haben. Sie haben jede Glaubwürdigkeit verloren, und das wissen sie. Das Einzige, was sie noch tun können, ist, uns die Arme zu verdrehen und uns zu erpressen.
Glaubt den Daten
Uns wird gesagt, dass die Daten eindeutig sind, dass die Impfung die sichere(re) Wahl ist. Aber selbst wenn wir annehmen, dass die vorhandenen Daten über Impfungen korrekt sind, gibt es eine ganze Reihe an Daten, welche wir (noch) nicht haben. Als erstes fällt auf, dass alle momentan verfügbaren Impfungen im Rahmen einer Notfallzulassung vorübergehend zugelassen sind. Keine der Covid19-Impfungen ist vollständig zugelassen und kann es auch nicht sein, weil wir keine Daten über die Langzeitwirkungen haben. Wir können Annahmen treffen, die sich auf andere ähnliche Impfungen in der Vergangenheit stützen (obwohl die Impfstoffe, die auf der neuen mRNA-Technologie basieren, keine solche Vorgeschichte haben), aber es gibt keine Garantien für die Langzeitwirkung. Jede Person, die sich impfen lässt, sollte sich dessen voll bewusst sein. Und schon allein aufgrund dieser Tatsache sollte jeder Zwang oder Druck, sich impfen zu lassen, ethisch falsch sein.
Die Daten, die wir über die Impfstoffe haben, stammen hauptsächlich aus Versuchen in Laboren und kontrollierten Bedingungen. Diese Tests müssen unter streng kontrollierten Rahmenbedingungen durchgeführt werden (auch wenn sie an Menschen aus dem täglichen Leben getestet werden), um aussagekräftige Schlussfolgerungen über Ursache und Wirkung treffen zu können. Natürlich gibt es im wirklichen Leben viele Komplikationen, Störungen, unvorhergesehene Ereignisse usw. Daher können diese Daten das Verhalten von Impfungen nur in sehr begrenztem Maße vorhersagen. In der Tat haben wir erlebt, dass die Empfehlungen, wem bestimmte Impfungen nicht verabreicht werden sollten, und die Listen möglicher Nebenwirkungen aktualisiert wurden, während die Impfungen in der realen Welt verabreicht wurden und unvorhergesehene Probleme auftraten. In diesem Maßstab können Nebenwirkungen, die sich nur auf einen winzigen Prozentsatz der Geimpften auswirken, in Wirklichkeit einen Kollateralschaden bei Tausenden von Menschen bedeuten. Selbst in den besten Zeiten hat die moderne Medizin eine alles andere als tadellose Erfolgsbilanz, wenn es darum geht, das Leben in all seiner Vielfalt, seinen Nuancen, seiner Komplexität und seiner Gesamtheit zu respektieren. Keine Frage, es handelt sich hier um ein laufendes Experiment in gewaltigem Maßstab.
Glaubt der Wissenschaft
Uns wird gesagt, dass wir der Wissenschaft vertrauen sollen. Aber selbst wenn wir nur die wissenschaftlichen Empfehlungen während der anderthalbjährigen Pandemie von Covid-19 betrachten, ist diese Aussage naiv oder unehrlich. In Europa wurde zu Beginn der Pandemie vom Tragen von Masken dringend abgeraten. Die damalige Annahme lautete, dass sich das Virus durch Kontakt verbreite und daher Desinfektion die richtige Antwort sei (und da es einen Mangel an Masken gab, waren sie dem Krankenhauspersonal vorbehalten). Monate später änderte sich diese Meinung, und mittlerweile herrscht Einigkeit darüber, dass sich das Virus über die Luft und nicht durch Kontakt verbreitet. Plötzlich waren Masken die Antwort auf alles. Nichtsdestotrotz desinfizieren wir auch weiterhin alles (anstatt zu lüften – das nennt man das Hygienetheater, wo der Eindruck von Sicherheit am wichtigsten ist). Dies ist ein Beispiel dafür, dass die Wissenschaft sich irren kann und dass die breite Gesellschaft noch länger braucht, um zu erkennen, dass sie sich geirrt hat.
Ein anderes Beispiel aus der Pandemie, warum wir der Wissenschaft nicht einfach vertrauen sollten, ist das Hin und Her um die Theorie, das Virus stamme aus einem Labor. Zu Beginn erschien ein von vielen Wissenschaftler:innen unterschriebener Artikel, der die Theorie, das Covid-19 – Virus könne aus einem Labor stammen, als kompletten Nonsens bezeichnete. Dieser Beitrag wurde bald zur Referenz für Mainstream- und soziale Medien, Politiker:innen und Spezialist:innen, die jede Erwähnung dieser Möglichkeit als Verschwörungstheorie labelten. In einer Zeit, als das Virus die Titelseiten bestimmte, dauerte es ein ganzes Jahr, bis einige Wissenschaftler:innen und Journalist:innen sich dem Artikel nochmal kritisch näherten. Dabei kamen sie zu dem Schluss, dass die wichtigste Begründung dafür irrelevant war und das einige Autor:innen ein direktes Interesse am guten Ruf des primär verdächtigten Labors und seiner Methoden hatten. Inzwischen ist die Möglichkeit einer Herkunft aus einem Labor weithin akzeptiert und wird als einer Untersuchung würdig angesehen. Um das klarzustellen: Weder die Möglichkeit der Herkunft der Erreger aus einem Labor noch die der Übertragung durch Tiere ist eindeutig bewiesen oder widerlegt – sie sind beide mehr oder weniger wahrscheinlich.
Dieses Beispiel zeigt, dass die wissenschaftliche Methode in der Realität nicht so klar und eindeutig funktioniert wie in der Theorie. Beispielsweise verschiebt sich der wissenschaftliche Konsens durch wissenschaftsfremde Argumente (z.B. politische Opportunität, finanzielle Interessen, etc.). Oder kleinen Gruppen hochspezialisierter Wissenschaftler fehlen Zeit oder Interesse, sich gegenseitig zu kontrollieren, usw. usf. Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben Philosophie und Wissenschaftssoziologie die Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit der Wissenschaft anschaulich beschrieben (siehe u.a. Paul Feyerabend, Pierre Thuillier). Dennoch scheinen viele Leute an einer sehr naiven Vorstellung davon, was Wissenschaftler tun, festzuhalten.
Glaubt an die Herdenimmunität
Uns wird gesagt, wir müßten die Herdenimmunität erreichen, um wieder vom Virus „frei“ zu sein. Dafür wird das Ziel der Impfung von 70 % der Bevölkerung anvisiert. Diese Zahl stammt aber aus der Zeit vor dem Auftauchen von Virusvarianten (wie Delta usw.), die infektiöser und gegen die die Impfungen weniger effektiv sind. Wir sollten auch nicht vergessen, dass die Impfstoffe hauptsächlich die Schwere der Krankheit beeinflussen sollen – die Verringerung der Infektionen ist ein Nebeneffekt. Die meisten mRNA Imfstoffe scheinen in dieser Hinsicht auch nicht allzu viel zu bewirken. Im Hinblick auf die neuen Virusvarianten gehen viele Experten inzwischen davon aus, das 80-90% der Bevölkerung geimpft sein müßten, um Herdenimmunität zu erreichen. Wenn wir es weiterhin als unethisch betrachten, Minderjährigen eine neuartige und nicht in allen Aspekten komplett verstandene Impfung zu verabreichen und in Betracht ziehen, dass einige Menschen aus medizinischen Gründen nicht geimpft werden können, würde der komplette Rest der Bevölkerung geimpft werden müssen. Jede staatliche Maßnahme, die zu 100 % eingehalten werden muss, um erfolgreich zu sein, ist zum Scheitern verurteilt.
Außerdem nimmt die Immunität mit der Zeit ab. Inzwischen wird von Auffrischungsimpfungen nach 6 oder 9 Monaten gesprochen. (Geht es um eine einmalige Sache? Oder soll das in Zukunft jedes (Halb-)Jahr passieren? Zum aktuellen Zeitpunkt wissen wir es nicht.) So oder so verringert dieser Umstand die Erfolgschancen weiter.
Obendrein scheint es bei einer weltweiten Pandemie eines hochansteckenden Virus generell unrealistisch, dass eine Region oder ein Land Immunität erreicht. Große Teile der Welt haben weder die Mittel noch die Infrastruktur, auch nur einen Teil der Bevölkerung zu impfen – ganz zu schweigen von der Vorstellung einer nahezu kompletten Durchimpfung. Außerdem stützen sie sich hauptsächlich auf Impfstoffe, die bei der Bekämpfung von Infektionen weniger wirksam sind. Die Chance, das Virus vollständig auszurotten, existiert in der Realität nicht. Es ist längst in der endemischen Phase angekommen – das heißt, Covid-19 wird, wie andere Corona-Varianten, in saisonalen Epedemien wiederkehren. Herdenimmunität ist die aktuellste Möhre, die vor unserer Nase baumeln gelassen wird – früher oder später wird sie durch etwas anderes ersetzt werden, um uns glauben zu machen, dass wir „Freiheit“ erreichen können, wenn wir nur folgen.
Seid verantwortungbewusst
Das Thema Herdenimmunität (oder zumindest das Impfen möglichst vieler Menschen) bringt uns zu der Frage, wer die Impfstoffe bekommt. In vielen Gegenden haben auch Leute mit einem hohen Krankheitsrisiko, die sich gerne immpfen lassen würden, keinen Zugang zum Gesundheitssystem und daher keine Aussicht auf eine Impfung. Während in Europa Millionen von Impfungen für Menschen reserviert sind, die nicht einmal ein großes Risiko haben, leichte Symptome zu entwickeln, und die ein unendlich geringes Risiko einer schweren Erkrankung haben. Das Horten von Impfstoffen wird vermutlich zunehmen, wenn klar wird, dass regelmäßige Auffrischungen des Impfschutzes nötig sind. Der Umstand, dass die WHO noch keine Auffrischungsimpfungen empfiehlt, scheint vor allem aus solchen Überlegungen zu resultieren. Die verantwortungsvolle Entscheidung oder die Reproduktion globaler Ungleichheiten?
Die Rhetorik von „Herdenimmunität“ und „Kampf gegen den unsichtbaren Feind“ geht in der Praxis mit einer strikteren Kontrolle des Zugangs zu Territorien und einem intensiveren Bevölkerungsmanagement einher. Wir sind scheinbar so weit gekommen, das die sogenannte progressive Seite der Gesellschaft mit mehr Kontrolle von Bewegungen und Grenzschließungen einverstanden ist. (Sie selber werden das in der Praxis kaum bemerken, schließlich haben sie die passenden Papiere, sich „frei“ zu bewegen.) Die verantwortungvolle Entscheidung oder die Intensivierung von Überwachung und Ausgrenzung?
Wenn wir etwas aus den letzten Jahrzehnten gelernt haben – 9/11 und die terroristische Bedrohung, Finanzcrash und drohender Bankrott, Austeritätspolitik und Bedrohung durch sozialen Kannibalismus, Flüchtlingsboote und Bedrohung durch rassistische Pogrome, Klimawandel und drohende ökologische Desaster usw. – dann, dass eine Position, die sich nicht radikal der Macht des Staates entgegenstellt (unabhängig, wer diese Macht kontrolliert), diese letzten Endes verstärken und damit den Weg für den nächsten durch Staat und Kapitalismus provozierten und gesteuerten Krisenzyklus freimachen wird.
verfasst von Anarchist:innen
Athen, Mitte Juli 2021
Quelle:
https://malacoda.noblogs.org/post/2021/07/30/e-allora-le-vaccinazioni/